Der Münchner Architekt Alexander Fthenakis liebt die Schwanthalerhöhe. Bei einem Spaziergang durch das Viertel erklärt er dessen ganz eigene städtebauliche Signatur: von der Gründerzeit über den Brutalismus bis in die unmittelbare Gegenwart.
Ein Montagvormittag im Westend, während das Oktoberfest in vollem Gange ist. Vom Bahnhof her schieben sich erste Gruppen mit Bier in der Hand in Richtung Festzelte. Hier im Westend macht sich noch niemand auf den Weg hinunter zur Wiesn, dafür hört man sie schon. Die Straßen sind leer, Handwerker tragen Rohre aus Hinterhöfen, eine Seniorin bringt die Einkäufe nach Hause. So dicht das Westend bebaut ist, so sehr wirkt es im Augenblick eher wie eine ruhige Vorstadt.
Trotzdem ist das Westend für den Münchner Architekten Alexander Fthenakis eines der lebendigsten und interessantesten Viertel der Stadt. Er leitet das Architekturbüro Fthenakis Studio in München, er hatte eine Gastprofessur für experimentelles Bauen an der TU inne, ist ein Experte im Umgang mit dem baulichen und städtebaulichen Bestand und Kenner der Münchner Architekturgeschichte. Mit ihm gehen wir durch das Viertel und lassen uns dessen Besonderheiten und wichtigste Baudenkmäler erklären.
Wir treffen Alexander Fthenakis vor dem MK5 Wohnturm, dem berühmten verschachtelten Hochhaus des Architekten Otto Steidle, das im Jahr 2002 eröffnet wurde. Die übereinander geschichteten, kubischen Elemente verleihen dem Gebäude eine dynamische Struktur. Durch die geschickte Anordnung der Volumina entstehen über die gesamte Vertikale großzügige Terrassen und Loggien.
Das ist mal ein Gebäude, das laut ruft: „Ich bin modern.“ Über 20 Jahre ist es nun alt. Was sagen Sie dazu?
Das Lustige ist: Ich habe 1997 ein Modell dieses Hauses gebaut. Ich habe eines meiner ersten Praktika bei Steidle gemacht, der einer der ganz großen Namen des modernen Bauens war. Was man zu diesem Haus sagen kann: Es atmet den Zeitgeist der 1990er-Jahre. Dieses „architektonische Tetris“, die gewollte Unordnung, die visuelle Komplexität ohne merkbare Wiederholung – das war damals sehr modisch. Es gefällt mir, wenn in einem Viertel mehrere Epochen sichtbar sind, und das ist im Westend definitiv der Fall. In vielen Fällen sind die 1990er-Jahre mit ihrem Stil für uns heute etwas unsichtbar. Bei diesem Gebäude ist das nicht der Fall. Interessant ist jedoch auch, wie die Bebauung hier aus den frühen 2000er-Jahren mit Prinzipien des Westends bricht.
Mit welchen?
Das innere Westend ist durch eine poröse, straßenbegleitende Blockstruktur gekennzeichnet. Man hat zwar eine Bebauung bis zu den Rändern der Straßenblöcke, aber durch die Mischnutzung – Wohnhäuser, Läden im Erdgeschoss, Handwerksbetriebe im Hinterhaus – hat man eben keine geschlossenen Fronten, sondern eine offene Struktur. Sehr oft gibt es Innenhöfe, die von außen begehbar sind. Besonders gern mag ich die kleine Tankstelle und Garage in der Ligsalzstraße, die aus den 1950er-Jahren übrig geblieben sind.
Und dieser in den 2000er-Jahren gebaute Teil des Westends ist großteiliger?
Genau. Hier herrschen eine offene Bauweise und großformatige Komplexe vor. Aber punktuell wurde auch hier versucht, eine gewisse Offenheit zu schaffen – etwa im Innenhof des KPMG-Gebäudes mit der Olafur-Eliasson-Treppe.
Vom MK5 Wohnturm gehen wir die Straße hinab in Richtung der Alten Messe. Lange Zeit war dies Münchens Hauptveranstaltungsort für Messen aller Art. Nach dem Umzug des Messebetriebs in den Osten der Stadt wurde das Gelände zum städtebaulichen Entwicklungsgebiet, in den ehemaligen Messehallen ist heute das Verkehrszentrum des Deutschen Museums untergebracht. Direkt dahinter beginnt der Bavariapark.
Mit der Messehalle und der Kongresshalle haben wir hier gleich zwei große Baudenkmäler. Was halten Sie davon?
Ja, das sind natürlich zwei außergewöhnliche Gebäude, beide sehr typisch für ihre Zeit. Die alte Messehalle, ein gewaltiger und doch filigraner Eisenbetonbau aus dem Jahr 1908, ist ein schönes Beispiel für die Münchner Architektur der Jahrhundertwende, im damals noch sehr neuen Baustoff Beton errichtet. Die Alte Kongresshalle nebenan, 1953 eröffnet, ist eines meiner liebsten Gebäude in München. Ein richtiger Prachtbau der 1950er-Jahre. Das vorstehende Dach wirkt einladend, die Glasfassade ist imposant und öffnet den Innenraum, die Freitreppen im Inneren sind sehr elegant, die Geländer wahnsinnig schön. Eines der wenigen Gebäude mit sehr gut erhaltener Innengestaltung aus dieser Epoche, die prinzipiell frei zugänglich sind.
Nach einem kurzen Fußweg Richtung Norden befinden wir uns vor dem Forum Schwanthalerhöhe an der Schwanthalerstraße, einem riesigen Gebäudekomplex aus den 1970er-Jahren.
Dieses Gebäude hier spaltet die Gemüter. Einige wenige sagen, es sei das Wahrzeichen des echten Westends. Die meisten finden es aber einfach brutal. Was sagt der Architekt dazu?
Wir haben es hier mit einer sehr komplexen Struktur zu tun, die aus mehreren Elementen besteht. Die südlich gelegenen hohen Wohnhäuser, die auch weithin sichtbar sind, halte ich aufgrund ihrer Monotonie auch nicht wirklich für gelungen. Auch wenn man dem Entwurf zugutehalten muss, dass viel Wohnraum geschaffen wurde, ist das schlecht gealtert. Das trifft aber nicht auf die anderen Elemente zu, also auf den großen nördlichen Komplex.
Der stammt von dem nicht nur in München sehr bekannten Architekten E. M. Lang, er ist als eine Art Stadt in der Stadt konzipiert, mit Restaurants und Geschäften im Erdgeschoss, einem Hotel und Wohnraum darüber. Le Corbusier mit seiner Unité in Marseille stand hier Pate.
Die gestapelte, versetzte Architektur mit den abgerundeten Vorsprüngen ist auch heute noch ansprechend, das alles wirkt sehr komplex und lebendig. Das Problem ist freilich, dass viel Potenzial brachliegt. Die oberen Etagen und gar die Dächer könnten fantastisch genutzt werden, was aber aufgrund der schwierigen Zugänglichkeit und Wartung einfach nicht passiert. Das ist sehr schade. Aber vielleicht passiert hier noch etwas.
Wir gehen ein paar Schritte weiter Richtung Nordwesten und stoßen auf eine lange Backsteinfassade. Es ist die Rückseite der berühmten Augustiner-Brauerei in der Westendstraße.
Die Backsteinfassade wirkt schier endlos. Was für ein Anblick!
Ja, man könnte sie als die „Große Mauer“ des Westends bezeichnen. Sehr imposant. Interessant ist, dass hier die beiden städtebaulichen Prinzipien des Viertels unmittelbar aufeinandertreffen. Auf der südlichen Straßenseite hat man die kleinteilige Struktur des inneren Westends, zum Großteil Häuser, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts errichtet wurden.
Dem gegenüber dieser gigantische Block der Brauerei aus den 1880er-Jahren. Mit seiner mehr als 200 Meter langen Fassade wirkt das Ganze ein bisschen wie eine Trutzburg, auch weil das Gelände hermetisch abgeschlossen und nicht betretbar ist. Das passt sehr gut zum Image von Augustiner: die letzte große Brauerei, die in München braut, die sich den großen Braukonzernen widersetzt. Augustiner ist ein bisschen wie das rebellische gallische Dorf im römischen Reich des Bieres, und das sieht man hier auch.
Wir laufen durch das zentrale Westend, bis wir vor dem Ledigenheim am Gollierplatz ankommen.
Wieder ein sehr schöner, alter Backsteinbau.
Ja, und was für einer. Das berühmte Ledigenheim von Theodor Fischer aus dem Jahr 1927, ein herausragendes Beispiel für die Neue Sachlichkeit und für mich eines der besten Gebäude in München. Fischer war ja nicht nur Architekt, sondern auch Städteplaner. Dieses Gebäude entstand als eine Art Wohnheim für junge Handwerker, Arbeiter und Angestellte. Das Gebäude musste eine große Anzahl kleiner, gut belichteter Zimmer für die Bewohner bieten. Dies spiegelt die architektonischen und hygienischen Prinzipien der Zeit wider. In den 1920er-Jahren spielte die Hygiene eine zentrale Rolle im Städtebau, ähnlich wie die Nachhaltigkeit heute.
Das Gebäude besteht aus mehreren Flügeln, die zur Straße hin eine straßenbegleitende Bebauung schaffen und gleichzeitig den Straßenraum definieren. Besonders interessant finde ich den Rücksprung des zentralen Turms im Innenhof, der das Gebäude optisch staffelt. So wirkt die Straßenfassade trotz der Höhe von sieben Geschossen nicht überwältigend. Erwähnenswert ist auch die Gestaltung des Eingangs. Der führt nicht direkt auf die Straße, sondern in einen halb offenen, überdachten Bereich. Das ist eine graduelle Überleitung zwischen der hektischen Straße draußen und dem geschützten Innenraum des Heims.
Drei Straßen weiter, in der Ganghoferstraße, befindet sich eine weitere Großstruktur: ein riesiger Wohnblock von trapezförmigem Grundriss. Es ist der letzte Stopp unseres architektonischen Rundgangs.
Dieser Komplex hier ist aus derselben Zeit, aus dem Jahr 1928. Was können Sie uns dazu sagen?
Dieses Gebäude wurde von dem Münchner Architekten Otho Orlando Kurz entworfen und ist ein tolles Beispiel für großformatigen Genossenschaftswohnbau. Die Fassade entlang der Straße wirkt relativ schlicht und gleichmäßig, doch an den Ecken zeigt sich die architektonische Raffinesse: Hier setzt Kurz Balkone, Rundungen und Erker, die den Block aufbrechen und architektonisch ein Gesicht geben.
Gibt es Elemente, die Sie für besonders gelungen halten?
Trotz seiner gewaltigen Größe gliedert sich das Gebäude so ganz gut in die kleinteilige Struktur der Umgebung ein, wozu auch die Geschäfte im Erdgeschoss beitragen. Das ganze Gebäude lebt auch von seinem großen, begrünten Innenhof. So geschlossen der Komplex von außen wirkt, so offen ist er nach innen. Man könnte Kurz und dieses Gebäude einer „konservativen Moderne“ zurechnen: Die Prinzipien der Moderne wurden grundsätzlich übernommen, in der Ausformulierung hielt man es dann aber doch lieber etwas traditioneller. Und damit ist das Gebäude sehr typisch für München.