Unsere Autorin lebt seit 35 Jahren in München. Mit dem Oktoberfest konnte sie sich nie anfreunden, bis sie letztes Jahr den schönsten Abend überhaupt dort hatte. Hier schreibt sie auf, was dieser Wiesn-Besuch für sie verändert hat – und warum sie sich schon jetzt aufs nächste Mal freut!
Ich gehe auf die Wiesn, seitdem ich laufen kann. In den Fotoalben meiner Eltern sind Bilder eingeklebt, auf denen ich im Mini-Dirndl und Mini-Janker, dafür aber mit einer riesigen Zuckerwatte vor dem „Jumbo-Flug“ stehe. Damals mein liebstes Fahrgeschäft, auch wenn mir die sprechende Elefanten-Statue mit den weit aufgerissenen Augen immer schon eine Heidenangst eingejagt hat. Später kamen die „Wilde Maus“ und riesige Lebkuchenherzen dazu. Die hingen dann monatelang in meinem Zimmer und würden verspeist, sobald es keine anderen Süßigkeiten mehr im Haus gab. Auch, wenn die irgendwann knochentrocken waren, egal!
Man muss sich ablenken von all dem Getümmel, dann kann die Wiesn nämlich magisch sein, weil sie dich in eine andere Welt mitnimmt und das selbe für dich tut – sie lenkt dich ab.
Die Wiesn war immer aufregend für mich als Kind – Kettenkarussell fahren, Dosen werfen, Rosen schießen – aber ich erinnere mich auch, dass es mir damals schon schnell zu laut und zu voll wurde. In dem Album klebt nämlich auch ein Foto, auf dem ich gelangweilt in einem Bierzelt sitze, den Kopf auf dem Arm abgestützt, der Blick sagt: „Wann gehen wir endlich nach Hause?“. Und dieses Gefühl hatte ich in meinen Erwachsenen-Jahren eigentlich immer, wenn ich auf dem Oktoberfest im Zelt saß und voll war. Nicht voll mit Alkohol, sondern voll mit Eindrücken.
Denn die Wiesn ist eine ständige Reizüberflutung und wer einmal anfängt, auf all diese Reize zu achten, der hält es keine Minute mehr aus. Man muss sich ablenken von all dem Getümmel, dann kann die Wiesn nämlich magisch sein, weil sie dich in eine andere Welt mitnimmt und das selbe für dich tut – sie lenkt dich ab. Es hat tatsächlich 35 Jahre gedauert, bis ich verstanden habe: Das Oktoberfest ist ein riesiger Vergnügungspark für Erwachsene und wer sich nicht darauf einlassen kann, der bleibt lieber zuhause.
Und ich freute mich, dieses Dirndl nun zum ersten Mal ausführen zu können. Ja, vielleicht war das bereits der Startschuss für meinen gelungenen Wiesn-Abend
Meinen Erweckungsmoment hatte ich im Herbst letzten Jahres: Unsere Bürogemeinschaft befindet sich nur wenige Meter neben der Theresienwiese. Wenn nicht gerade das Oktoberfest stattfindet, ist das ein guter Ort für lange Spaziergänge und Aussichten – man guckt auf die Frauenkirche, auf die Bavaria, über Münchens Sehenswürdigkeiten. Manche skaten hier, andere lernen Fahrradfahren und wieder andere lesen auf einer Parkbank. Die Theresienwiese ohne die Wiesn ist leer, aber auf eine angenehme Art und Weise. Und wer in den Vierteln drumherum wohnt oder wie ich arbeitet, der muss gar nicht in den Kalender schauen, denn sobald das Oktoberfest stattfindet, weiß man es. Dann sind die Straßen voll mit Trachten, Wegbieren und murmelnden Menschen.
Es versteht sich also von selbst, dass unser Büro mindestens einen Feierabend auf dem Oktoberfest verbringt. Und so auch letztes Jahr: Ich zog morgens mein Dirndl an, das ich mir während der Pandemie zugelegt hatte. Zuvor erntete ich jahrelang ungläubige Blicke, wenn ich sagte, dass ich als waschechte Münchnerin kein Dirndl im Kleiderschrank hängen hatte. All meine Freundinnen haben mindestens eines oder sogar mehrere – und das lohnt sich, wenn man mehrmals hingeht, denn fast niemand kommt hier mit sauberen Klamotten nach Hause. Und ich freute mich, dieses Dirndl nun zum ersten Mal ausführen zu können. Ja, vielleicht war das bereits der Startschuss für meinen gelungenen Wiesn-Abend.
Der Abendhimmel leuchtete in Pastellfarben, passend zu den Leuchtschriften der Fahrgeschäfte. Die Ansagen der Autoscooter, Geister- und Achterbahnen hallten über die weitläufige Theresienwiese.
Lange habe ich nicht verstanden, warum es das überhaupt braucht: Sich teure Tracht kaufen für ein Event, das nur ein Mal im Jahr stattfindet. Als Einheimische*r schimpft man gerne über den „Trachtenfasching“, den es hier jedes Jahr zu begutachten gibt. Vor allem spannend ist die Schuhwahl zur Tracht – von Cowboystiefeln bis Flip Flops habe ich bereits alles gesehen. Und obwohl ich nicht viel Wiesn-Erfahrung habe, weiß ich, dass offene Schuhe im Bierzelt eine eher mutige Entscheidung sind. Dass man auf dem Oktoberfest überhaupt Lederhosen oder Dirndl trägt war nicht immer so. Ich studiere die Fotos meiner Kindheit, damals in den 90er-Jahren waren tatsächlich noch die wenigsten Gäste in Tracht. Am liebsten ging man in Jeans und Hemd auf die Wiesn.
Mit der Zeit verstand ich aber: Die Tracht funktioniert während der Wiesn tatsächlich wie eine Art Verkleidung. Sie hilft einem, den Alltag abzulegen und für einen Nachmittag oder Abend in eine andere Rolle zu schlüpfen. Wer morgens schon im Dirndl oder in der Lederhose ins Büro fährt, der hat garantiert einen guten Arbeitstag. Zum einen, weil dieser meist früher endet, zum anderen, weil die Vorfreude alles überlagert. Durch das Auftrachteln bringt man sich in Stimmung. Und wahrscheinlich ist das gar nicht so anders wie an Karneval oder Fasching. Seitdem ich das begriffen habe, belächele ich niemanden mehr in Tracht. Es ist ein wichtiger, vielleicht unerlässlicher Teil der Wiesn geworden!
Ich hatte Bammel: Würde das zarte Pflänzchen meiner Oktoberfest-Freundschaft nun sofort von Helene-Fischer-Songs zertrampelt werden?
Wir stiefelten also los. Nicht in Cowboy-Stiefeln, aber immerhin in festem Schuhwerk. Und schon vor dem Eingang, hatte mich die Magie gepackt: Der Abendhimmel leuchtete in Pastellfarben, passend zu den Leuchtschriften der Fahrgeschäfte. Die Ansagen der Autoscooter, Geister- und Achterbahnen hallten über die weitläufige Theresienwiese. Die Musik gefiel mir zwar nicht, irgendwas zwischen Schlager und Party-Mallorca, aber sie nahm mich mit, trieb an. Wer viel Zeit im Internet verbringt, kennt die Memes, auf denen es heißt „Wir gehen rein!“ – und es gibt wenige Feste, auf denen dieser Satz so gut passt wie beim Oktoberfest. Das bedeutet so viel wie: Jetzt gehts los! Pack mas an!
Wir hatten Glück an diesem Abend: Obwohl wir keine Reservierung hatten und Ewigkeiten vor einem Bierzelt anstanden, fanden wir schließlich einen Sitzplatz draußen. „A ganzer Tisch frei!“, höre ich die Stimme von Gerhard Polt in meinem Kopf aus seinem Stück „Der Nobelpreisträger“, in dem er von einem Wiesn-Besuch erzählt. Darin wundert er sich: „Ja, sag amoi haben die Leute am helllichten Tag nichts anderes im Schädel wie Bier saufen.“ Nein, haben sie nicht, nicht auf dem Oktoberfest. Die anderen wären lieber drinnen gesessen, aber für mich war der Platz perfekt: unter Wärmelampen, kein Gedränge, keine Bierzeit-Musik. Die erste Maß war erstaunlich schnell weg und ich schon versucht, eine zweite zu bestellen, aber meine Freundin, die auch dabei war, erinnerte mich daran, dass das Wiesn-Bier stärker ist, dass man es leicht überschätzt. Also bestellte ich eine alkoholfreie Maß hinterher und die rettete mir tatsächlich den Abend! Denn was ich dort unter den Wärmelampen noch nicht wusste: Es sollte nicht unsere letzte Station sein.
So lange hatte ich es selten auf der Wiesn ausgehalten und deshalb wahrscheinlich auch nie mitbekommen, dass das Oktoberfest auch das ist: Zusammenhalt.
Auf der Wiesn vergeht die Zeit anders. Es ist wie im Urlaub oder an freien Tagen. Ich kann nicht mehr sagen, wie lange wir dort draußen saßen, aber irgendwann war es dunkel und wir beschlossen weiterzuziehen. Alle Bierzelte waren mittlerweile voll, aber wir schafften es mithilfe eines Freundes, der auf der Wiesn, am Ende doch in eines hinein. Ich hatte Bammel: Würde das zarte Pflänzchen meiner Oktoberfest-Freundschaft nun sofort von Helene-Fischer-Songs zertrampelt werden? Natürlich waren alle im Zelt mittlerweile relativ betrunken, aber zu meiner Überraschung zugleich auch unfassbar nett und hilfsbereit. Da wurde einem Mädchen auf die Bank geholfen, auf der zu späterer Stunde schon alle standen, sangen und schunkelten. Da wurde sich entschuldigt, wenn man aus Versehen jemanden anstieß. Da lernte man sich kennen und fragte nach der Nummer.
So lange hatte ich es selten auf der Wiesn ausgehalten und deshalb wahrscheinlich auch nie mitbekommen, dass das Oktoberfest auch das ist: Zusammenhalt. Natürlich gehen auch mal Bierkrüge zu Bruch, Kampfhähne müssen getrennt werden, aber an diesem Abend in diesem Bierzelt war davon nichts zu spüren. Alle waren seelig, völlig losgelöst von der Erde. Als die Band schließlich „Angels“ von Robbie Williams anstimmte, den Abschiedssong, war auch ich nicht mehr zu halten, sang mit geschlossenen Augen mit, auf der Bierbank stehend. Vor ein paar Jahren noch unvorstellbar, aber nun war ich mittendrin – und mochte es nicht nur, ich hatte auch ein wenig mein Herz verloren. Gerne hätte ich meinem Sitznachbarn auf die Schulter getippt und gesagt: Ich verstehe es jetzt! Ich verstehe die Wiesn!
And down the waterfall, wherever it may take me
I know that life won't break me
When I come to call, she won't forsake me
I'm loving angels instead
Es störte niemanden, dass während des Songs die Lichter angingen, ein Zeichen für: Jetzt bitte gehen! Auch, als die Band längst aufgehört hatte zu spielen, sang das Bierzelt weiter und weiter, einfach weil es so schön war, weil wir alle nicht nach Hause wollten. Draußen vor dem Zelt suchten sich Freundesgruppen, die sich in der Menge verloren hatten, manche knutschten, andere organisierten sich ein Taxi. Es war eine Stimmung wie früher, wenn man im Morgengrauen aus dem Club geschmissen wurde. Nur, dass die Nacht noch vor uns lag, denn es war erst 23 Uhr. Ohne, dass wir groß darüber sprechen mussten, war klar, dass wir das Substanz ansteuerten. Eine Kneipe nur wenige Meter von der Theresienwiese entfernt, die auch für ihre After-Wiesn-Partys bekannt ist.
Es hieß also wieder Schlange stehen, aber wir unterhielten uns so nett mit der Gruppe vor uns, dass die Wartezeit schnell verging. Drinnen direkt an die Bar und dann auf die Tanzfläche. Dort tanzte nicht jeder für sich, wie ich das von anderen Partys kenne, sondern irgendwie alle miteinander, ohne dass es flirty war oder aufdringlich. Wir waren wie Kinder, in einer Blase, in der es nur das Jetzt gab, diese einen Abend, diese Nacht. Keiner unterhielt sich über die Arbeit, über Probleme. Eigentlich unterhielt man sich sowieso kaum, es brauchte keine Worte, nur „Bohemian Rhapsody“ von Queen! Über der Tanzfläche schwebten Seifenblasen und ich hatte mein Zeitgefühl endgültig verloren. Mamaaaaaaa, uuuuuuuh!
Als die Band schließlich „Angels“ von Robbie Williams anstimmte, war auch ich nicht mehr zu halten, sang mit geschlossenen Augen mit, auf der Bierbank stehend. Vor ein paar Jahren noch unvorstellbar, aber nun war ich mittendrin – und mochte es nicht nur, ich hatte auch ein wenig mein Herz verloren.
Irgendwann, es war sehr spät, spazierten meine Freundin und ich nach Hause. Zwei Leute, die wir im Club kennengelernt hatten, mussten in dieselbe Richtung, liefen noch ein Stück mit uns. Sie kamen nicht aus München. Wir machten noch lustige Fotos unter den Straßenlaternen, tauschten Nummern aus, obwohl klar war, dass wir uns wahrscheinlich nie wiedersehen würden. Und auch das war vollkommen okay! Am nächsten Morgen wachte ich auf, leicht verkatert, den verwischten Stempel vom Substanz noch auf meinem Arm, das Dirndl hing an meinem Kleiderschrank, als wäre nie etwas gewesen. Ich musst grinsen, was für ein Abend! Und freute mich schon aufs nächste Jahr, zum allerersten Mal.