In München wächst die Vorfreude auf die Wiesn im Tandem mit den Dachstühlen der Bierzelte, den Skeletten der großen Fahrgeschäfte. Nur: Während des Aufbaus darf das Gelände nicht betreten werden – es sei denn, man nimmt an einer exklusiven Führung teil. Einblicke in Münchens spannendste Baustelle.
Wer in München lebt und schon mal das Vergnügen hatte, Bekannte bei ihrem ersten Besuch auf die Wies zu begleiten, weiß womöglich, dass der Begriff „Bierzelt“ zwei Dinge zugleich darstellt. Erstens: ein inhaltlich zutreffendes Kompositum. Es wird schließlich Bier in einem Zelt getrunken. Und zweitens: ein buchstäblich monumentales Missverständnis. Denn anders als mancher Gast offenbar vermutet, handelt es sich nicht um eine Ansammlung weißer Faltpavillons, wie man sie von Gartenpartys kennt. Sondern um imposante Festhallen mit Galerien und Balkonen, aufwendig dekoriert und dazu in der Lage, tausende Feiernde zugleich mit Getränken, Essen und guter Laune zu versorgen.
Dass solche Hochleistungsstrukturen nur vorübergehend existieren, von den himmelhoch ragenden Fahrgeschäften sowie den unzähligen Ständen ganz zu schweigen, lässt nicht nur die Einheimischen jedes Jahr aufs Neue staunen. Selbst Stephanie Zimmermann wirkt hin und wieder ungläubig, während sie über das Festgelände führt. Gerade steht die 47-Jährige in der Küche des Löwenbräu-Festzelts, beziehungsweise dort, wo die Küche demnächst sein wird. „Vor einer Woche sah das hier noch ganz anders aus“, sagt sie mit Blick in Richtung Mitte des Zelts, wo man bereits den Rohbau der Kapellenbühne ausmachen kann. Zimmermann, blaues Blümchenkleid, gelbe Warnweste, weißer Schutzhelm, kennt das Oktoberfest wie kaum jemand sonst. Weil sie als gebürtige Münchnerin schon seit ihrer Kindheit hierher kommt. Und weil sie als offizielle Gästeführerin der Stadt Touren über das Gelände führt.
Interessierten ermöglicht sie so Einblicke, wie man sie sonst kaum bekommt. Denn während ihres Aufbaus darf die Wiesn von der Öffentlichkeit eigentlich nicht betreten werden. Das wäre für alle Beteiligten zu gefährlich. „Es handelt sich hier um eine gigantische Highspeed-Baustelle“, erzählt Zimmermann. 17 große und 21 kleine Festzelte, einige kolossale und jede Menge kleinere Fahrgeschäfte sowie unzählige Stände müssen errichtet werden – und das innerhalb von knapp drei Monaten. Rund 2000 Leute arbeiten dafür sechs Tage die Woche à zwölf Stunden. „Und je näher der Anstich rückt, desto länger werden die Tage“, sagt Zimmermann. „Am Ende wird hier rund um die Uhr gearbeitet.“
Selbst der Abbau unterliegt einem strengen Zeitplan, denn bereits Ende November steigt mit dem Tollwood-Winterfestival die nächste Großveranstaltung. Damit ein solches Mammutprojekt überhaupt gelingen kann, existiert ein genau festgelegter Fahrplan: Anfang Juli starten die großen Festzelte, es folgen die mittleren und kleinen, erst dann kommen die Schausteller-Betriebe mit ihren Fahrgeschäften. Falls kurz vor Eröffnung noch ein paar Quadratmeter frei sein sollten, dürfen kleinere Stände als Nachrücker die Lücken füllen. Wenn der Aufbau irgendwo in Verzug geraten sollte, helfe man sich gegenseitig, erzählt Zimmermann. „Da sagt niemand: ‚Ällabädsch! Wir sind fertig und ihr nicht!‘“
Die Pipelines, von denen die Rede ist, sollen einer Legende nach Münchens Brauereien unterirdisch mit den Bierzelten auf der Theresienwiese verbinden.
Mittlerweile hat sich das Grüppchen rund um Zimmermann vor der Baustelle versammelt, die schon in wenigen Wochen das Augustiner-Festzelt sein wird. Das Fasslager – ein von Weitem sichtbarer, 30 Meter hoher Turm – steht bereits. Es sei eine Besonderheit auf dem Oktoberfest, erklärt Zimmermann, denn in ihm würde tatsächlich ein Teil der Holzfässer zwischengelagert, die das Festzelt mit Bier versorgen.
Alle anderen Zelte hätten längst auf ausgeklügelte Tanksysteme umgestellt. „Das Bier muss perfekt gekühlt, nicht zu schaumig und mit dem richtigen Druck rauskommen, sonst kann die Mass nicht innerhalb von drei Sekunden gezapft werden“, sagt Zimmermann. „Die Bier-Pipelines gibt es also gar nicht?“, fragt eine Führungsteilnehmerin. „Dieses Gerücht hält sich hartnäckig“, antwortet Zimmermann und schmunzelt sichtlich amüsiert. Die Pipelines, von denen die Rede ist, sollen einer Legende nach Münchens Brauereien unterirdisch mit den Bierzelten auf der Theresienwiese verbinden. Über die Frage scheint sich Zimmermann aber zu freuen, die Gruppe bringt eine offensichtliche Leidenschaft für das Oktoberfest mit, manche machen die Führung gar im zweiten Jahr in Folge.
Und auch Zimmermann sagt: „Wer die Wiesn mag, sollte den Aufbau einmal hautnah miterleben. Dann schätzt man sie noch mal ganz anders.“ So viel Enthusiasmus ist ansteckend, im Lauf der Führung beginnt man selbst, den Aufbau als gigantisches Puzzle wahrzunehmen, entdeckt überall mit Marker oder Spraydose angebrachte Lösungshinweise wie „Hofbräu Küche links“, „Schütze Elektro“ oder „rechts vorne vom Zelt“. Das Zusammensetzen dürfte dennoch eine Herausforderung sein: Aus 1,6 Millionen Einzelteilen bestehe so ein Bierzelt, rund 100 Lkw-Ladungen brauche die Anlieferung.
Was es den Festzeltbetrieben etwas einfacher macht: dass die großen und mittleren Zelte jedes Jahr am selben Platz errichtet werden. Die in rund einem Meter Tiefe verlegten Anschlüsse bleiben, an der grundlegenden Platzierung der Zeltelemente ändert sich nicht viel. Das gilt auch für andere Teile der Infrastruktur wie etwa die Lichtmasten, sagt Zimmermann und deutet auf ein Exemplar. „Man versucht jedes Jahr, die Nachhaltigkeit zu verbessern.“ Deshalb hat man in diesem Jahr auf LEDs umgestellt. Heißes Wasser zum Abspülen werde es auf absehbare Zeit auch nicht geben. „Die dafür benötigte Energie würde jeden Rahmen sprengen“, erklärt Zimmermann. Sorgen um die Hygiene müsse sich deshalb aber niemand machen, fast nirgendwo wird so engmaschig kontrolliert wie auf dem Oktoberfest.
Überhaupt die Sicherheit: Am Ende nehmen weder Bauleitung noch die Betreiber die Festzelte ab, sondern die Feuerwehr. „Wenn es irgendwo zehn Zentimeter zu eng ist, wird zur Not auch noch mal eine Wand versetzt“, sagt Zimmermann. Weil die Alpina-Bahn, immerhin die größte transportable Achterbahn der Welt, im Jahr 2018 ihr Kassenhäuschen falsch an einem Rettungsweg platzierte, musste die komplette Bahn ab- und wieder aufgebaut werden.
Der Führung nähert sich ihrem Schluss, die Gruppe steuert zurück zum nördlichen Haupteingang. Am Ende stellt sich nur noch eine Frage: Worauf freut sich Wiesn Insiderin Stephanie Zimmermann in diesem Jahr besonders? „Ich liebe es ja, schon in der Früh auf das noch ruhige Festgelände zu gehen“, sagt sie. „Dann hole ich mir eine Schmalznudel und einen Kaffee und stelle mir vor, wie anders alles in einer Stunde aussehen wird.“ Einziger Wermutstropfen: Dieses Privileg ist den Menschen vorbehalten, die mit einem Berechtigungsausweis außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten auf das Gelände können. Aber bevor Enttäuschung darüber aufkommen kann, gibt Zimmermann der Gruppe einen letzten, großartigen Tipp: Während das Oktoberfest stattfindet, öffnet die nahe gelegene Paulskirche ihren 97 Meter hohen Hauptturm. „Den schönsten Blick auf die Wiesn hat man von dort.“