Für die Reihe „Ich war noch niemals …“ besuchen unsere Autorinnen und Autoren Orte in München, an denen sie noch nie waren – und das, obwohl sie seit Jahren oder sogar schon immer in der Stadt leben. Diesmal besucht unsere Münchner Autorin Anja Schauberger zum ersten Mal ein Pferderennen auf der Galopprennbahn Riem.
Eine Menschentraube spaziert an diesem Montagnachmittag in ein und dieselbe Richtung, ähnlich wie bei einem Konzert oder Festival. Mich freut's, denn so brauche ich kein Google Maps und kann mich einfach dranhängen. Anders als bei einem Konzert ist hier aber: Es sind so viele verschiedene Menschen, dass man niemals darauf kommen könnte, was das gemeinsame Ziel ist. Da laufen Frauen mit Kinderwägen, aufgetakelte junge Paare, Freundinnen in Jeans und daneben ältere Herren im Sportsakko. Von jung bis alt, von schick bis schlicht, von gemeinsam bis allein. All diese Menschen gehen heute zum After-Work-Renntag auf der Galopprennbahn in Riem.
Ungefähr einmal pro Monat findet hier ein Pferderennen statt, mal zum Osterrenntag, dann zum großen Dallmayr-Preis, mal zum After-Work-Rennen oder zum Familienfest. Obwohl die Anlässe und Uhrzeiten verschieden sind, läuft das Programm immer ähnlich ab: Es finden mehrere Rennen statt, an den Wettbuden kann man seinen Tipp abgeben oder auch nur zuschauen. Dafür sucht man sich einen Platz auf der Tribüne, auf der großen Wiese oder in einem der Biergärten und Restaurants. Wer Hunger bekommt, wird zudem bei den zahlreichen Foodtrucks fündig, die auf dem 96 Hektar großen Gelände verteilt sind. Manche Buden verkaufen auch nur Getränke, eine wirbt mit einem großen Schild, auf dem „Schampus“ steht. Ich hole mir erst einmal einen Aperol Spritz und beobachte das Treiben.
Ich war noch nie auf der Münchner Galopprennbahn und generell auch noch nie bei einem Pferderennen. Warum auch? Ich verbinde damit das britische Königshaus, millionenschwere Zuchtpferde und ein sehr wohlhabendes Publikum. Alles Dinge, die nichts mit mir zu tun haben.
Wo ich was finden kann auf dem Gelände, habe ich schnell begriffen, was ich dagegen nicht verstehe: Wie funktioniert das alles hier? Ich war noch nie auf der Münchner Galopprennbahn und generell auch noch nie bei einem Pferderennen. Warum auch? Ich verbinde damit das britische Königshaus, millionenschwere Zuchtpferde und ein sehr wohlhabendes Publikum. Alles Dinge, die nichts mit mir zu tun haben. Schon das erste Gespräch, dem ich lausche, bestätigt diesen Eindruck: „Vermieten lohnt sich gar nicht mehr!“, beschwert sich ein etwa 80-Jähriger im feinen Zweiteiler. Seine Frau im Sommerhut lacht verlegen. Bei den geringen Mieteinnahmen, die man als Eigentümer heutzutage bekäme, würde er definitiv zum Verkauf raten. Luxusprobleme!, denke ich und laufe weiter.
Zwischen den ganzen Normalos sehe ich einige Gäste, die sich für das Event richtig herausgeputzt haben. Ich finde das super, aber weiß nicht, ob man das so ernst nehmen kann oder ob es doch eher eine Verkleidung ist: Manche tragen bei 30 Grad ein Tweed-Kostüm à la Chanel, andere Strohhüte oder Fascinator – genauso habe ich mir Pferderennen vorgestellt. Ich sehe viele Bootschuhe, Loafer und jede Menge Louis-Vuitton-Taschen. Sollte ich mir Gedanken machen in meinem Alltagsoutfit mit Birkenstocks? In jedem Fall ist es wahnsinnig unterhaltsam, sich die verschiedenen Leute anzuschauen. Darunter auch einige Ältere, die es definitiv ernst meinen mit ihren Seidenkleidern, Leinenanzügen und Budapestern.
Manche tragen bei 30 Grad ein Tweed-Kostüm à la Chanel, andere Strohhüte oder Fascinator – genauso habe ich mir Pferderennen vorgestellt. Ich sehe viele Bootschuhe, Loafer und jede Menge Louis-Vuitton-Taschen.
Aus meiner Ahnungslosigkeit heraus, stelle ich mich einfach irgendwo an. „Möchten Sie ein Rennprogramm kaufen?“, spricht mich die Verkäuferin im Kiosk an. „Wofür brauche ich das denn?“, frage ich höflich, entschuldige mich und erkläre, dass ich zum ersten Mal hier bin. Im Rennprogramm fänden sich alle heutigen Rennen, aufgelistet mit Pferden, Jockeys und dem jeweiligen Favoriten-Tipp, wer gewinnen könnte, erklärt sie. Ich kaufe also ein Heft für 2,50 Euro und blättere durch. Das erste Rennen startet um 17.15 Uhr, es treten zehn Pferde gegeneinander an. In der Tabelle erfahre ich alles über die Tiere: Alter, Farbe, Abstammung, Besitzer, Züchtung. Die Frau im Kioskhäuschen merkt, wie orientierungslos ich bin und ergänzt: „Dort hinten werden gleich die Pferde vorgeführt! Wenn Sie noch Fragen haben, gehen Sie bitte zur Wettschule.“
Wettschule, das klingt gut. Dort erklärt ein Typ gerade im Poloshirt vor einem Whiteboard, welche Wettarten es gibt, ich stelle mich dazu und lerne: Sieg-Wette bedeutet, man wettet, dass das favorisierte Pferd gewinnt. Bei einer Platz-Wette geht man davon aus, dass das Pferd, auf das man gesetzt hat, unter den ersten drei Gewinnern ist. Dann gibt es noch Platz-Zwilling, das heißt, man wettet auf zwei Pferde, die unter den ersten drei sind. Außerdem kann man Zweier-, Dreier- und Vierer-Wette abschließen – alles für Fortgeschrittene, denke ich und schalte ab. Bevor ich den Stand der Wettschule wieder verlasse, schnappe ich mir ein Heft: Das 1x1 der deutschen Wettarten. Schadet sicherlich nicht!
Manche Tiere sind noch größer als andere, manche noch muskulöser, obwohl ich generell erstaunt bin darüber, wie dünn und austrainiert alle sind. Klar, sie müssen ja wahnsinnig schnell sein.
Und plötzlich riecht es nach Pferd. Noch bevor ich überhaupt eines sehe, weiß ich, dass es jetzt soweit ist: Die Schau beginnt, man kann die Pferde begutachten, erst einmal ohne Jockey. Es scharen sich schon viele Menschen vor dem Longierkreis, ich stelle mich dazu. Zuerst verstehe ich nicht, was das bringen soll – warum werden die Pferde gezeigt, bevor sie laufen? Aber dann stelle ich schon ein paar Unterschiede fest: Manche Tiere sind noch größer als andere, manche noch muskulöser, obwohl ich generell erstaunt bin darüber, wie dünn und austrainiert alle sind. Klar, sie müssen ja wahnsinnig schnell sein. Ich bin schnell im Thema, achte gar nicht mehr auf die Farbe oder den Kopf der Tiere, sondern nur noch auf den Körperbau. Eigentlich kann ich gar nichts mit Pferden anfangen – ich finde sie angsteinflößend groß, möchte nicht auf ihnen sitzen und habe die Reiterhof-Phase längst überwunden – aber das finde ich doch sehr beeindruckend.
Eines der Pferde bockt bereits beim Schaulaufen, es will ständig in die andere Richtung laufen und zieht an dem Halfter. Ich mag dieses Pferd, es hat seinen eigenen Willen, also entscheide ich mich für die Nummer 8. Dann folgt noch eine Runde in einem größeren Longierkreis, der direkt zur Rennbahn führt. Die Jockeys kommen dazu, setzen sich schon auf ihre Pferde. Wie spannend sehen bitte diese bunten Outfits aus? Warum haben Jockey-Trikots nicht längst Einzug in unsere Alltagsmode gehalten? Ein irischer Jockey trägt ein weißes Blouson mit blauen Sternen darauf, dazu die passende Mütze. Ein anderer sieht aus wie ein Marienkäfer: rotes Trikot und rote Mütze mit schwarzen Punkten darauf. Der Ire hat die Nummer 3, ich entscheide mich noch ganz spontan für ihn, einfach weil mir sein Outfit am besten gefällt.
Warum haben Jockey-Trikots nicht längst Einzug in unsere Alltagsmode gehalten? Ein irischer Jockey trägt ein weißes Blouson mit blauen Sternen darauf, dazu die passende Mütze. Ein anderer sieht aus wie ein Marienkäfer: rotes Trikot und Mütze mit schwarzen Punkten darauf.
Ich gehe zu einer Wettbude und studiere die Zettel, die dort ausliegen. So ganz begreife ich es noch nicht, aber da neben mir zwei älteren Herren stehen, die aussehen, als hätten sie reichlich Erfahrung in Pferderennen, quatsche ich sie an. Einer ist sehr nett und erklärt mir alles geduldig. Er leiht mir seinen Stift, auch daran habe ich natürlich nicht gedacht (Anfängerin!), und wir füllen den Wettschein gemeinsam aus. „Ich wünsch Ihnen viel Glück!“, ruft er mir noch hinterher. Ich bedanke mich und wünsche dasselbe. Auf jedes Pferd setze ich fünf Euro: Auf Pferd Nummer 3 mit dem Namen „Northwind“ und die Nummer 8 „Calamour“. Nun bin ich aber gespannt, eines davon muss doch in die Top 3 kommen!
Auf meinem Rückweg zur Rennbahn gehe ich durch das Erdgeschoss des Hauptgebäudes und hier finde ich die Wettbude, wie ich sie mir vorgestellt habe: An mehreren Schaltern sitzen hektische Mitarbeiter*innen, die Wettenden wedeln mit ihren Zetteln, einige sitzen noch und starren gebannt auf die Dutzend Bildschirme. Es ist laut, die Stimmung angespannt, man spürt es richtig, da liegt etwas in der Luft – Vorfreude, aber auch Gereiztheit. Wer wird wohl gleich gewinnen?
Ein Knall, es geht los. Da ich in der ersten Reihe stehe, spüre ich die Kraft, mit der die Pferde an uns vorbeirauschen. Um die 60 Kilometer pro Stunden laufen die Tiere, erfahre ich von dem Moderator, der das Spiel über Lautsprecher kommentiert
Nach dem Schaulaufen geht alles recht schnell: Die Jockeys reiten auf die Rennbahn vor und bringen sich in Startposition. Ein Knall, es geht los. Da ich in der ersten Reihe stehe, spüre ich die Kraft, mit der die Pferde an uns vorbeirauschen. Um die 60 Kilometer pro Stunden laufen die Tiere, erfahre ich von dem Moderator, der das Spiel über Lautsprecher kommentiert. Wahnsinn! Dementsprechend kurz ist so ein Rennen. Ich fiebere mit, aber meine Theorie geht nicht auf: Weder der Ire noch das bockige Pferd sind vorne, sie werden relativ schnell abgehängt. „Calamour“ schafft es zumindest auf Platz 4, aber das bringt mir leider nichts, ich habe verloren.
Den ersten Platz belegt Lukas Delozier mit „Antinori“, das schwerste Pferd, lese ich in meinem Rennprogramm. Obwohl ich nicht genau verstehe, wie sich das Gewicht berechnet – es hat wohl nichts mit dem Körpergewicht, sondern mit vergangenen Siegen zu tun. Vielleicht ist das ja eine Strategie, die ich verfolgen könnte. Ich blättere um: Beim nächsten Rennen reitet Delozier auch und er hat wieder das schwerste Pferd. Das kann doch kein Zufall sein! Ohne also das zweite Schaulaufen abzuwarten, setze ich direkt auf „Russian Sochi“ und Lukas Delozier. Aber ich bin vorsichtiger geworden, diesmal werden es nur zwei Euro. Als ich wieder am Wettschalter stehe, treffe ich die beiden netten Herren wieder. „Und? Gewonnen?“, fragt der eine mich vorfreudig. Ich schüttle enttäuscht den Kopf, leider nicht. Auch sie gingen diesmal leer aus.
Ohne also das zweite Schaulaufen abzuwarten, setze ich direkt auf „Russian Sochi“ und Lukas Delozier. Aber ich bin vorsichtiger geworden, diesmal werden es nur zwei Euro.
Als das nächste Rennen etwa 15 Minuten später startet, kann ich es nicht fassen: Lukas Delozier liegt mit „Russian Sochi“ tatsächlich vorne, sie belegen zwar nur den zweiten Platz, aber trotzdem: Ich hab' gewonnen! Die Freude ist groß. Aber kann es so einfach sein? Habe ich im zweiten Rennen schon durchschaut, wie Pferderennen funktionieren? Ich bezweifle es. Bei meinem dritten Versuch setze ich erneut auf zwei Pferde, weil ich so siegessicher bin. Zuvor lasse ich mir noch meinen Gewinn auszahlen: 5,30 Euro. Und die werden direkt wieder eingesetzt. Ich gewinne, ich verliere, immer im Wechsel.
So läuft das den ganzen Abend, ingesamt gibt es sieben Rennen, aber nach dem vierten verlässt mich die Lust. Ich habe ungefähr wieder das Geld reingespielt, das ich verloren habe – also eine gute Zeit, um aufzuhören. Ich hole mir einen Burger am Foodtruck und genieße einfach die nächsten Rennen. Kein hin und herlaufen mehr, keine Pferdeschau, kein Bangen, ob man es noch rechtzeitig zum Wettbüro schafft, bevor der Gong ertönt und die Mitarbeiter*innen ihre Rollos runterlassen. Und tatsächlich finde ich nur das Zuschauen auch sehr unterhaltsam. Nach einigen Rennen habe ich schon Lieblings-Jockeys, denen ich insgeheim den Sieg wünsche.
Auf der Website schaue ich nach, wann das nächste Rennen stattfindet: Es ist der Große Dallmayr-Preis. Dort möchte ich unbedingt hingehen, diesmal vielleicht gemeinsam mit einer Gruppe von Freund*innen und vielleicht ziehen wir uns dann auch besonders schick an.
Das letzte Rennen ist um 20.45 Uhr, es ist nicht mehr viel los und das Abendlicht besonders schön. Als ich schließlich den Ausgang suche, laufe ich noch einmal durch das Wettbüro im Erdgeschoss: Die Luft ist raus, überall liegen Wettzettel auf dem Boden des leeren Raums, manche von ihnen sind zerknüllt. Was für ein gelungener Abend!, denke ich mir. Ich kann jetzt verstehen, warum Leute gerne zu Pferderennen gehen – es ist spannend, es ist unterhaltsam und die Stimmung auf dem Gelände ist wirklich einmalig. Auf der Website schaue ich nach, wann das nächste Rennen stattfindet: Es ist der Große Dallmayr-Preis an einem Sonntag im Juli. Dort möchte ich unbedingt hingehen, diesmal vielleicht gemeinsam mit einer Gruppe von Freund*innen und vielleicht ziehen wir uns dann auch besonders schick an.