Fragt man die Menschen im Westend, was ihr Viertel besonders macht, bekommt man fast immer die Antwort: die Menschen, die hier leben. Als Keimzelle der guten Nachbarschaft gilt unter anderem das Ladencafé Marais. Wir haben uns bei der Inhaberin Alexandra Baumann nach dem besonderen Lebensgefühl im Viertel erkundigt.
Wer im Westend lebt, lebt anders. Bis in die 1990er-Jahre war das Viertel eins der kleinen Leute und Arbeiter, noch heute wird es geprägt von seinem industriellen Charme, den engen Straßen und Hinterhofwerkstätten sowie den großformatigen Genossenschaftswohnbauten. Gleichzeitig wirkt das Westend in sich geschlossen, im Norden, Westen und Süden wird es begrenzt von Bahntrassen, nach Osten von der weitläufigen Theresienwiese. Die urbane Dichte wirkt sich offenbar auch auf die Nähe zwischen den Menschen aus, das Westend ist in München bekannt als das Viertel, das am ehesten eine Art „Kiezcharakter“ hat, ein Ort, an dem die Menschen wie von selbst enge Bande knüpfen.
„Man kennt sich halt. Wenn irgendwas ist, hilft man sich hier gegenseitig, das ist sehr schön“, sagt sie.
Alexandra Baumann lebt hier seit mehr als 30 Jahren. In dieser Zeit ist sie ein einige Male umgezogen, aber immer nur innerhalb des Viertels. Wegziehen sei keine Option, warum sollte sie auch. „Ich bewege mich wirklich nicht so viel aus dem Westend heraus, ich bin immer im Viertel unterwegs, das ist mein Dorf“, sagt Baumann und lacht. Sie hat gerade kurz Zeit, eigentlich ist immer zu viel los, Bestellungen annehmen, Schmuck verpacken, Fragen beantworten, Angestellte koordinieren, Espresso macchiato machen.
Baumann ist Inhaberin des Ladencafé Marais, einem dieser Orte im Westend, an denen man die gute Nachbarschaft nicht nur spüren, sondern auch wirklich treffen kann. „Man kennt sich halt. Wenn irgendwas ist, hilft man sich hier gegenseitig, das ist sehr schön“, sagt sie. Beim Secondhandladen gegenüber kann Baumann immer ihre Lieferungen abstellen. Im Hinterhof sitzen ein Restaurateur und ein Dachdecker, wenn im Ladencafé mal eine Hand gebraucht wird, sind beide da. „Dafür sind wir deren Kaffeelieferant“, beschreibt Baumann das Verhältnis und lacht.
Verbundenheit, Gemeinschaftssinn, ein gutes Miteinander – all das strömt bereits das Interieur des Café Marais aus. Denn es wirkt zunächst wie ein Museum, mit Inventar aus den 1920er-Jahren, weil es sich in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Textilfachgeschäfts befindet. Dann aber auch wie ein Flohmarkt, weil man Vintagemöbel, Schmuck, Kleidung, Taschen und Krimskrams dort kaufen kann. Und natürlich auch wie ein Café – wo man für Frühstück, Panini und hausgemachten Kuchen zusammenkommt.
Baumann wohnte um die Ecke des Vorgängerladens, als dieser 2006 neu verpachtet wurde. An Inventar ist einiges geblieben, zum Beispiel die Originalschaufenster und auch die Schneiderpuppen. Die Anzüge werden heute allerdings von echten Menschen aufgetragen, die in den Schaufenstern sitzen, frühstücken und Kaffee trinken. Gut, die wenigsten tragen tatsächlich einen Anzug. „Zu uns kommen wirklich alle“, sagt Baumann. Junge Paare zum ausgiebigen Brunch, alte Damen, die allein eine Tasse Kaffee trinken, Familien und Freunde jeden Alters. „Wir erleben auch kleine Gäste, die ihre Papas überreden, ins Café zu kommen. Bei uns gibt es nämlich die besten Schokocroissants“, sagt Baumann. Ein weiteres Highlight für die kleinen Gäste: „Paraguas de Chocolate“, Schokoschirmchen aus Spanien, liebevoll verpackt. Die gehen immer, erzählt Baumann.
An einem sonnigen Vormittag holt Baumann gerade ein noch verpacktes Exemplar einer Handtasche aus einer Holzschublade, um sie einer Käuferin zu übergeben, als ein kleiner Gast auf sie zugelaufen kommt. „Wie viel kostet das?“, schallt es von unten herauf, in der Hand türkise Ohrringe, hinter sich die Mutter im Schlepptau. Baumann beantwortet die Frage und geleitet Mutter und Kind zum nahe gelegenen Spiegel. „Je nach Lichteinfall sehen die ja auch anders aus“, sagt Baumann und verschwindet wieder hinter der Theke.
Ein paar Schritte weiter sitzen zwei englischsprachige junge Männer mit floral gemusterten Hemden, essen von ihrem Brotkorb und bestellen sehnend: „Coffee please.“ An einem Fensterplatz in der Nähe des Eingangs gönnt sich ein Pärchen ein ausgiebiges Frühstück, und an den Tischen draußen stößt eine große Mädelsgruppe auf das Leben an. Und natürlich kommen immer wieder Stammgäste in das Ladencafé.
„Davon kommen die meisten wirklich aus dem Viertel“, sagt Baumann. Da gibt es zum Beispiel einen älteren Mann, der seine Lehre damals bei einem Notar gemacht hat. Eine seiner ersten Aufgaben war es, die Erben des vorherigen Textilladeninhabers ausfindig zu machen. Als er Jahrzehnte später das Café entdeckte, kam ihm die Adresse bekannt vor. „Parkstraße 2“, hat er damals zu Baumann gesagt, „das war doch mein erster Auftrag.“ Mittlerweile sind seine Frau und er über 70. „Aber die kommen immer noch zu uns“, sagt Baumann.
Ein weiteres Highlight für die kleinen Gäste: „Paraguas de Chocolate“, Schokoschirmchen aus Spanien, liebevoll verpackt. Die gehen immer, erzählt Baumann.
Gegen Mittag stehen zwei Frauen an der Kasse und wollen bezahlen. Eine von ihnen hat ihr Kleinkind im Arm, es schaut neugierig über die Schulter seiner Mutter und nimmt Blickkontakt zu einem Mann mit Schildmütze auf, der ebenfalls in der Schlange steht. Sie lächeln sich an, die Mutter bekommt es mit und lächelt ebenfalls, ein Gespräch entsteht. Der Mann erzählt von seiner Tochter im Teenageralter, schaut das Kleinkind an und sagt nostalgisch: „Ach ja, bei mir ist das schon eine Weile her.“ Und da ist es dann wieder, dieses Nachbarschaftsgefühl. Selbst wenn man sich noch fremd sein sollte, im Westend lernt man sich schnell kennen, und bei gutem Kaffee und leckerem Essen sowieso.